Von der Mitte der Neunzigerjahre bis 2016 wurde in Deutschland immer wieder über Quoten für deutschsprachige Musik im Radio diskutiert. Heute wirken diese Debatten völlig aus der Zeit gefallen, denn deutschsprachige Lieder dominieren die Charts.

Wer ist der erfolgreichste Künstler aller Zeiten in Deutschland? Gemessen an der Anzahl der Nummer-Eins-Singles ist es Capital Bra, ein Berliner Rapper mit russischen und ukrainischen Wurzeln. Bis in die vergangene Woche musste er sich diesen Platz noch teilen – mit niemandem Geringerem als den Beatles.

Wer einen Blick in die Top 10 der MTV Single-Charts dieser Woche wirft stellt fest: sämtliche Lieder haben deutschsprachige Texte. Seit 2016 stieg die Zahl deutscher Nummer Einsen deutlich und ist im bisherigen Verlauf des Jahres 2019 so hoch wie nie zuvor. Bis zum 21. März 2019 stand in diesem Jahr 83% der Zeit ein Track in deutscher Sprache an erster Stelle der „Offiziellen Deutschen Musikcharts“. 2018 waren es 43%, der vierthöchste Wert seit 1979.

Alle (verfügbaren) Spitzenreiter der deutschen Single-Charts seit 1979 haben wir in dieser Spotify-Playlist zusammengestellt.

Damit übertrumpfen die Deutschrapper um Capital Bra, Eno und Mero sogar den Höhenflug von 2005-2008. Als damals deutsche Pop-Rock-Bands wie Silbermond und Tokio Hotel Erfolge feierten und die Musik der Sportfreunde Stiller und Herbert Grönemeyer die Fußball-WM 2006 begleitete, lag die Quote bei 37%. Es folgte eine relative Flaute: Von 2009–2016 stand lediglich 6.5% der Zeit ein deutscher Track an der Chart-Spitze – etwa drei Wochen pro Jahr. Und zwischen Dezember 2009 und Mai 2012 (900 Tage) waren keine deutschen Zeilen von der „Pole Position“ zu vernehmen.

Deutsche Sorgen um Deutsche Quoten

Dabei bereitete noch in den 1990er Jahren der niedrige Anteil deutschsprachiger Musik wechselnden Fraktionen des politischen und kulturellen Betriebs immer wieder Sorgen. Ausdruck fand das in einer beständig wiederkehrenden Debatte über Quoten im privaten und öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

So forderte etwa der deutsche Liedermacher und Sänger Heinz Rudolf Kunze („Dein ist mein ganzes Herz“) 1996 in einem Interview im Spiegel eine verpflichtende Quote von 40% für „Produktionen einheimischer und insbesondere deutschsprachiger Künstler.“ Die Notwendigkeit einer solchen Regelung begründete er mit einer „Flut von ausländischer Musik und eben auch ausländischem Schund“, die „gerade in Deutschland und in Japan, den Verlierernationen des Zweiten Weltkrieges […] widerstandslos geschluckt“ würde. Sein Mitstreiter Ole Seelenmeyer, Vorsitzender des Deutschen Rockmusikerverband, sprach sogar von einem „Genozid an der deutschen Rockmusik“.

Nach regionalen Vorstößen zur Quotierung deutschsprachiger Musik brachten die Bundestagsfraktionen der SPD und der Grünen 2004 einen Antrag für eine „Selbstverpflichtung öffentlich-rechtlicher und privater Rundfunksender zur Förderung von Vielfalt im Bereich von Pop- und Rockmusik in Deutschland“ in den Bundestag ein.

Zu den prominenten UnterstützerInnen zählten beispielsweise Wolfang Thierse, der damalige Bundestagspräsident, und die Grünen-Abgeordnete Antje Vollmer. Diese begründete das Anliegen wiederum in einem Spiegel-Interview damit, dass „gerade fortschrittliche Menschen“ doch darauf setzten müssten, dass „die Musiker, die in einem bestimmten Land und einer bestimmten Kultur leben, sich spezifisch mit den Eigenheiten dieser Kultur und ihrer eigenen Gesellschaft auseinandersetzen.“ Eine Mehrheit im Parlament sprach sich schließlich für den Antrag und damit für eine freiwillige Quote von 35% aus.

Einen merklichen Effekt hatte die Selbstverpflichtung in den Folgejahren kaum. Doch 2010 erneuerte der Verein Deutsche Sprache die Forderung nach mehr deutschsprachiger Musik. Im Radio rief er seine Mitglieder zu einem Boykott der Rundfunkgebühren auf. Zuletzt wurden ähnliche Forderungen 2015 vom damaligen Vorsitzenden der Jungen Union Mecklenburg-Vorpommern, Franz-Robert Liskow, geäußert und unter dem Schlagwort „Helene-Quote“ diskutiert.

„Denn wenn nicht jetzt, wann dann und wenn nicht wir, wer dann?“ (– Kontra K)

Doch mit dem wachsenden Erfolg deutschsprachiger Musik in den letzten Jahren verstummte die Debatte um Quoten zunehmend. Nach einem Bericht des Bundesverbandes Musikindustrie (BVMI)  waren im Jahr 2015 acht der Top-10-Alben in den Jahrescharts deutsche Produktionen – der bisherige Höchststand –, in den Top 100 immerhin 69%.

Die „Offiziellen Deutschen Musikcharts“ werden im Auftrag des Bundesverbandes Musikindustrie (BVMI) von GfK Entertainment ermittelt. Seit 1979 hat sich er Erhebungsmodus mehrfach verändert. Ausschlaggebend ist dabei heute der Umsatz (statt etwa der Stückzahl verkaufter Singles), was seit Januar 2014 auch Streaming-Daten beinhaltet.  Die zunehmende Personalisierung und Individualisierung des Musikhörens wird seitdem auch in den Charts wiedergegeben. Durch Streaming-Dienste hat sich etwa auch die „Gatekeeping“-Funktion von Radio- und Fernsehsendern sowie der Musik-Presse hin zu den KuratorInnen der Streaming-Dienste verschoben.

16 Bars statt sieben Brücken

Der beispiellose aktuelle Höhenflug in den Topplatzierungen der Single-Charts wird dabei klar von einer Musikrichtung getrieben: Deutschem Rap. Alle Lieder in den aktuellen Top 10 der MTV Single-Charts sind nicht nur deutschsprachig – sie sind deutscher Rap. Selbst der hohe Anteil deutschsprachiger Musik hat also, wie Ole Seelenmeyer vom Deutschen Rockmusikerverband hoffte, den deutschen Rock nicht zurück an die Spitze der Charts gebracht. 16 Bars statt sieben Brücken. „Zeiten ändern sich“, konstatierte einst Bushido und fügte an: Manchmal auch „dich und deine Sicht.“


Foto: Stefan Brending (2eight) via Wikimedia (CC-BY-SA-3.0 de)

Daten: Die Daten speisen sich aus der deutschsprachigen Wikipedia und den dortigen Angaben der Deutschen Musikcharts, die heute vom Bundesverband der Musikindustrie (BVMI) in Auftrag gegeben von GfK Entertainment erhoben werden.