Seit Beginn der rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz diskutiert Deutschland den Rechtsextremismus in Sachsen. Beobachter ziehen eine Linie von den Ausschreitungen Hoyerswerda 1991 über die ehemalige Stärke der NPD in den 2000ern bis zum bürgerlichen Rechtsradikalismus des vergangenen Wochenendes in Chemnitz. Tatsächlich sind solche rechten Kontinuitäten aber ein deutschlandweites Phänomen.

Im Zuge der rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz hat sich eine Frage in der deutschen Medienlandschaft in den Vordergrund gedrängt: Warum immer wieder Sachsen? Die Prämisse der Frage ist, dass es speziell in Sachsen eine historische Kontinuität rechten Gedankengutes gibt. Die Zuwendung eines „breiteren Spektrums des bürgerlichen Rechtsradikalismus“ hin zu Neonazis und rassistischen Hooligans sei dabei nur der aktuellste Schritt. Dieser Prämisse folgend beginnt die journalistische Spurensuche zumeist in Sachsen.

Sachsens rechtsextreme Vergangenheit

Einerseits ist das richtig. „Chemnitz 2018“ ist nur der vorerst letzte Höhepunkt rechter Gewalt in Sachsen. Bereits 1991 griffen Fremdenfeindliche über eine Woche ein Asylbewerberheim in Hoyerswerda an. 2017 rangiert Sachsen auf Platz 6 im Bundesländer-Ranking der rechtsextrem motivierten Gewalttaten.

Rechtsextreme Parteien verbuchen seit Jahren Erfolge in Sachsen. 2004 zog die NPD mit 9,2% der Stimmen in den Landtag ein. Ihr Vorsitzender, Holger Apfel, verweigerte kurz darauf im Plenum des Landtages die Teilnahme an einer Schweigeminute für die Opfer des Nationalsozialismus. Nachdem Apfel das Mikrofon abgeschaltet wurde, begann dieser laut Alterspräsident Cornelius Weiss (SPD) eine „mit Schaum vor dem Munde in Goebbels’scher Manier vorgetragene Hasstirade.“

Danach begann der langsame Abstieg der Partei in Sachsen: 2009 büßte sie Stimmen ein, blieb aber mit kleinerer Fraktion im Landtag, 2014 scheiterte sie an der 5-Prozent-Hürde. 2019 scheint der Wiedereinzug unwahrscheinlich.

Dafür gewann die AfD seit ihrer Gründung im Februar 2013 stetig an Zustimmung. Bei der Bundestagwahl 2017 erzielte sie in Sachsen 27% der Zweitstimmen und wurde damit vor der CDU stärkste politische Kraft im Land. Einerseits ist der historische Erklärungsansatz – „Warum immer wieder Sachsen?“ – also richtig, denn in Sachsen kommen zahlreiche Elemente zusammen: NPD-Hochburgen, rechtsextreme Verbrechen und NSU-Hauptquartier. Kurz: ein „stabiles rechtes Milieu.“

Gemeinsamer Boden: Radikale und Populisten

Andererseits wird in der Debatte aber ein größerer Zusammenhang aus den Augen verloren: Die Verflechtung der Wurzeln von eher randständigem Rechtsradikalismus zum Einen und breitem Rechtspopulismus zum Anderen ist ein bundesweites Phänomen. Diesen Zusammenhang zeigt eine Analyse der Ergebnisse vergangener Bundestagswahlen.

Grafik 1: Zusammenhang zwischen den Zweitstimmenergebnissen der AfD 2017 und der NPD 2013 inkl. Trend und Bestimmtheitsmaß R² (Bundesebene sowie Ost- und Westdeutschland).

Mit den Daten des Bundeswahlleiters haben wir die statistischen Zusammenhänge zwischen den Wahlerfolgen größerer bundesweit angetretener Parteien auf Wahlkreisebene bei Bundestagswahlen deutschlandweit erfasst. Das Ergebnis: Wo 2013 die rechtsradikale NPD verhältnismäßig stark war, dort konnte auch die rechtspopulistische AfD 2017 punkten. Gleiches gilt für die NPD-Ergebnisse 2009 und 2005. Dieser Zusammenhang besteht im gesamten Bundesgebiet, sowie getrennt für West- und Ostdeutschland.

Bemerkenswert ist dabei die Stärke des statistischen Zusammenhangs, der Korrelation. In unserer Analyse haben wir das Bestimmtheitsmaß („R2“) für die Zweitstimmen aller Parteien im Jahr 2017 und aller Parteien 2013, 2009 und 2005 ermittelt. Keine andere Parteienkombination hat einen derart starken Zusammenhang wie NPD und AfD.[1]

Grafik 2: Streudiagramme der Zweitstimmenergebnisse der AfD 2017 und allen größeren bundesweit angetretenen Parteien 2013 in absteigender Zusammenhangsstärke bzw. Bestimmtheit R² (Ost- und Westdeutschland; n.b.: Die Skalen ändern sich zwischen den Grafiken).

Die AfD wandert nach rechts

Soviel zu den Ergebnissen der AfD 2017. Und wie steht es um die Ergebnisse der Bundestagswahl 2013, als die AfD bei vielen noch eher als Partei der Euroskeptiker galt? Das Streudiagramm zeigt, dass der statistische Zusammenhang zu vorherigen NPD-Ergebnissen weitaus schwächer war.

Grafik 3: Zusammenhang zwischen den Zweitstimmenergebnissen der AfD 2013 und der NPD 2009, sowie zum Vergleich der AfD 2017 und der NPD 2013 (s. auch oben), inkl. Trend und Bestimmtheitsmaß R² (Bundesebene sowie Ost- und Westdeutschland; n.b.: Die Skala der AfD-Ergebnisse ändert sich von 2013 zu 2017).

Das liegt vermutlich an der politischen Neuausrichtung der AfD zwischen 2013 und 2017: Zwar stellte beispielsweise der Populismus-Forscher Alexander Häusler schon 2013 fest, die AfD habe „Tendenzen zu einer rechtspopulistischen Ausrichtung“. Von den 2017 gewählten Bundestagsabgeordneten gilt nun aber etwa die Hälfte als nationalkonservativ oder nahe dem Rechtsextremismus. Erst mit diesem Wandel von Euroskepsis zu Nationalkonservatismus ergibt sich auch der starke statistische Zusammenhang zu den vorherigen Ergebnissen der rechtsextremen NPD. Die Zahlen zeigen also: Die rechtspopulistische AfD ist heute dort besonders erfolgreich, wo es die NPD vor zwölf, neun und vier Jahren war.

Aus diesem Zusammenhang lassen sich keine Schlüsse über die direkte Wählerwanderung von der NPD zur AfD ziehen. Es lässt sich aber sagen, dass für jeden NPD-Prozentpunkt 2013 die AfD 2017 im selben Wahlkreis im Schnitt ganze 5.5 Prozentpunkte erzielte.

Rechte Potenziale

Was bedeutet dieser Zusammenhang? Die Interpretation ist nicht einfach, denn eine Aufstellung dieser Art zeigt nur ein statistisches Muster, keine Kausalkette.

Sigrid Roßteutscher, Professorin für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung untersucht derzeit ähnliche Fragestellungen. In Anbetracht unserer Analyse vermutet sie, dass solche Ergebnisse auf „geographisch isolierbare Nischen rechtsradikalen Denkens und Handelns in Deutschland“ hinweisen könnten, welche „über die Generationen hinweg sozialisiert werden und sich immer dann im Wahlverhalten niederschlagen, wenn eine entsprechende Partei diese Sentiments mobilisiert.“ In einem solchen Erklärungsmodell steht also eine Art örtlich verwurzelte rechte Kultur im Vordergrund.

Einen weiteren Erklärungsansatz sieht Roßteutscher im Fortbestand bestimmter struktureller Bedingungen in den Wahlkreisen, beispielsweise mangelnde Infrastruktur oder anhaltende wirtschaftliche Verluste. Diese führten dann „zu einem Gefühl des Abgehängtseins, dass sich in Protestwahlverhalten, Antieliten-Einstellung und Populismus“ niederschlage. Für den Fall der AfD wurde dieser Ansatz in der Forschung allerdings bereits angezweifelt.

Ob eine dieser beiden Kausalketten – und wenn ja, welche – den Zusammenhang zwischen AfD-Ergebnissen heute und vergangenen NPD-Ergebnissen wirklich erklären kann, müssen weitergehende Untersuchungen zeigen.

Rechte Erfolge gestern, heute und morgen

Klar ist: Dort, wo die NPD gestern erfolgreich war, ist die AfD es heute. Dort wo Rechtsradikalismus – manifestiert in NPD-Erfolgen – fruchtete, findet also auch der breite Rechtspopulismus Anklang. Dieser Zusammenhang besteht in ganz Deutschland.

Für die Debatte um die Ereignisse in Chemnitz ist dieser Punkt in doppelter Hinsicht wichtig. Einerseits ist er eine Antwort auf die Relativierungen, dass es sich bei den randalierenden Neonazis um einen kleinen radikalisierten Kern handele. Die Daten zeigen können nicht zeigen, ob die Rechtsradikalen auf der Straße für ein breites rechtes Gedankengut in Sachsen stehen. Was sie aber zeigen: Das Vorhandensein eines rechtsradikalen Kerns wies in der Vergangenheit auf ein breiteres rechtes Potenzial hin, dass die AfD später nutzte. Ein Schluss von den Ereignissen in Chemnitz auf ein breites rechtes Potenzial in Stadt und Land ist also möglich. Ob das eher an einer lokalen Kultur, den sozio-ökonomischen Bedingungen oder anderen Faktoren liegt können die Daten nicht zeigen.

Andererseits verweist das Argument auch auf den Rest Deutschlands. Die NPD saß auch in Mecklenburg-Vorpommern zehn Jahre lang im Landtag. Zudem liegt Mecklenburg-Vorpommern an der Spitze des Bundesländer-Rankings der rechtsextrem motivierten Gewalttaten. Auch Berlin, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg liegen in dieser Liste vor Sachsen. Dass vor der Frage „Warum immer wieder Sachsen?“ nun über die Kontinuität von rechtem Gedankengut im Freistaat debattiert wird ist richtig, greift aber zu kurz. Solche Kontinuitäten gibt es in ganz Deutschland.


Foto: Zeitfixierer via Flickr, CC-BY-SA 2.0

[1] Bestimmtheitsmaß R² zwischen AfD 2017 und der NPD über die Jahre: 2013: 0.816; 2009: 0.868; 2005: 0.813.

Quelle: Der Bundeswahlleiter, eigene Auswertung und Darstellung

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