Allein gegen den Rest der Welt: Die AfD scheint ihre Rolle nicht als Führung der Opposition gegen die Regierung zu verstehen, sondern als Opposition gegen alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien. Die Plenarprotokolle zeigen, wie sich dieses Selbstverständnis im Parlamentsalltag ausdrückt.

Als der Abgeordnete Thomas Seitz zum Rednerpult des Deutschen Bundestags geht, lächelt er verschmitzt. Wenige Sekunden später steht er am Mikrofon. Und schweigt. Mit ihm steht die gesamte AfD-Fraktion. Es ist eine geplante Inszenierung, eine Schweigeminute für die ermordete Susanna F. Als die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) sich dessen bewusst wird, verweist sie Seitz unter Protest seiner Partei vom Pult. Schweigeminuten seien Zeichen von Demut, keine parteipolitischen Instrumente, wird Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) einige Tage später sagen.

Die Provokation hat auch diesmal gewirkt: Tagelang redet die deutsche Presse über wenig Anderes. Dabei ist es nicht unerwartet, dass sich die 92 Abgeordneten der AfD-Fraktion nicht immer an den geschriebenen und ungeschriebenen Verhaltenskodex des Bundestages halten. Die Partei ist zum ersten Mal im Bundestag und hatte sich im Wahlkampf als die Anti-Partei, als Gegenentwurf zu ihren Konkurrenten stilisiert. Eine Auswertung der Parlamentsprotokolle der 40 Sitzungen der aktuellen Wahlperiode zeigt, dass sie sich, nun im Parlament, nicht nur als Oppositionsführung gegen die Bundesregierung von Union und SPD  versteht: Sie sieht sich als Opposition gegen alle anderen Parteien gleichermaßen.

Einen ersten Hinweis auf die Positionierung der AfD gibt eine Analyse des Applauses im Parlament. Wie taktisch Parteien applaudieren hat eine Datenanalyse der Süddeutschen Zeitung jüngst herausgearbeitet und gezeigt, dass andere Fraktionen selten mit der AfD klatschen.[1]

Eine Analyse des alleinstehenden Applauses aller Fraktionen offenbart, wie sehr die AfD zur Alleinklatscherpartei geworden ist: Ihre Abgeordneten stellen zwar nur 13% der Parlamentsmitglieder, machen aber 25% des alleinstehenden Applauses aus. Dieser findet vor allem statt, wenn die eigenen Abgeordneten zum oder vom Rednerpult schreiten oder eine Zwischenfrage stellen.

Als größte Oppositionsfraktion ist es zu erwarten, dass die AfD auch die meisten Zwischenfragen stellt: Ihre Aufgabe ist es, gemeinsam mit den Grünen, der FDP und der Linken, die Regierung kritisch zu hinterfragen. Abgeordnete der AfD haben bisher 121 solcher Fragen eingeschoben, während Abgeordnete anderer Parteien am Rednerpult standen. Zwar kommen Grüne und Linke gemeinsam auf etwa genauso viele, stellen aber auch 44 Abgeordnete mehr als die AfD.

Dabei beschränken sich die Fragen nicht auf die Regierungsfraktionen. Grundsätzlich erhalten CDU/CSU und SPD die meisten Fragen, auch wenn sie nicht immer darauf eingehen: Während die Union Zweidrittel der an sie gerichteten Fragen annimmt, ist es bei der SPD weniger als die Hälfte. Die AfD stellt aber allen Parteien, gemessen an der Anzahl ihrer Abgeordneten und damit ihrer Redezeit, fast gleich viele Fragen. Sie scheint ihre Rolle im Bundestag nicht als Führung der Opposition gegen die Regierung zu verstehen, sondern als Opposition gegen alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien.

Konstantin Kuhle, Abgeordneter für die FDP-Fraktion, beobachtet das aus direkter Nähe. Seine Fraktion sitzt direkt neben der AfD. Die FDP nimmt proportional am meisten Zwischenfragen an, er selbst antwortete auch auf die einzige Zwischenfrage eines AfD-Abgeordneten, die ihm gestellt wurde. Dass liege aber nicht unbedingt an einer „liberalen“ Grundhaltung der FDP gegenüber den Redebeiträgen anderer. „Dass die FDP solche Fragen am häufigsten annimmt, mag auch daran liegen, dass die FDP als kleine Fraktion wenig Redezeit im Bundestag hat. Die Annahme einer Zwischenfrage kann die Länge der eigenen Redezeit verlängern, denn solange man auf die Zwischenfrage antwortet, hält die Präsidentin oder der Präsident die Uhr an“, erklärt er. „Auf diese Weise ist es schon so mancher Rednerin und so manchem Redner gelungen, durch die kluge Beantwortung einer Zwischenfrage zusätzliche Redezeit zu erlangen“.

Trotzdem versteht er, warum viele Kollegen auf Zwischenfragen der AfD nicht eingehen. Am seltensten tun das die Parteien links der Mitte: Grüne, Linke und SPD. „Offen gesagt geht mit einer Zwischenfrage durch die AfD oftmals ein aggressiver Ton einher, sodass eine sachliche Fortführung des eigenen Redebeitrages nicht immer gewährleistet ist“, meint er. Außerdem sei auch nicht jede Zwischenfrage eine Frage: „in vielen Fällen beschränkt sich das auf Zwischenbemerkungen“.

Die Arbeit der Oppositionsabgeordneten findet aber zu einem großen Teil außerhalb des Plenums statt, hinter den verschlossenen Türen ihrer Büros. Hier arbeiten sie an Kleinen Anfragen und Anträgen.  Während Kleine Anfragen „von der Bundesregierung Auskunft über bestimmte Sachverhalte“ fordern, wird mit Anträgen „die Bundesregierung aufgefordert, dem Parlament über bestimmte im Antrag genannte Ereignisse oder Politikbereiche zu berichten oder einen Gesetzesentwurf zur Regelung bestimmter Dinge vorzulegen.“ Gemessen an der Repräsentierung im Bundestag zeigt sich, dass die AfD und FDP weitaus weniger Anträge und kleine Anfragen stellen, als Grüne und Linkspartei. Kuhle hat dafür eine einfache Erklärung. Es sei der Fall, „dass mitunter Initiativen aus der vorangegangenen Legislaturperiode in dieser Legislaturperiode wieder in das parlamentarische Verfahren eingespeist werden.“ Tatsächlich sind AfD und FDP auch die beiden Neulinge im Bundestag – die FDP setzte von 2013 bis 2018 aus. „Dass die FDP im Vergleich zu den anderen kleinen Fraktionen weniger Kleine Anfragen und Anträge einreicht, sagt zunächst also nichts über den parlamentarischen Fleiß der Fraktion aus.“ Ob sich die Zahlen in den kommenden Jahren der Legislaturperiode angleichen, bleibt abzuwarten. Mit dem angekündigten Untersuchungsausschuss zur Migrationspolitik seit 2016 haben beide Parteien ihre kritisch-oppositionelle Position eindeutig klargemacht.

Die Parlamentsprotokolle zeigen das in mehrerer Hinsicht spezielle Auftreten der Abgeordneten der AfD: Die Fraktion klatscht am häufigsten alleine, stellt die meisten Zwischenfragen und erhält dabei die meisten Körbe von anderen Abgeordneten. Damit fallen sie im Plenarsaal des Bundestages und darüber hinaus auf. Ob diese Opposition gegen Alle zu Lasten der stärker formalen Werkzeuge der Parlamentsarbeit – etwa der kleinen Anfragen und Anträgen – gehen wird, bleibt abzuwarten.


[1] S. auch unsere Tweets vom November und Dezember 2017.

Foto: © Deutscher Bundestag / Achim Melde