Mit der Veröffentlichung seines Kanons erntete Zeit-Bildungskorrespondent Thomas Kerstan vor allem eins: Rege Kritik von feministischer Seite. KritikerInnen bemängelten, dass sich unter den 100 Autoren nur 7 Frauen fanden. Doch wie stellt sich das Geschlechterverhältnis in den übrigen Zeit-Kanons dar? Eine Analyse der letzten sieben veröffentlichten Kanons der Wochenzeitung gibt Aufschluss darüber, wie Frauen in der Autorenschaft und unter den Rezensierenden vertreten sind.

Von Kristina Kämpfer

Unter dem etwas sperrigen Hashtag #diekanon eroberte einer der jüngsten feministischen Aufrufe Anfang August Twitter. Ins Leben gerufen wurde dieser in Reaktion auf die Veröffentlichung des letzten Zeit-Kanons. Thomas Kerstan, Bildungskorrespondent der Zeit, hatte darin Einhundert Werke aufgelistet und anhand von ihnen „definiert, was heute von Bedeutung ist und was morgen von Bedeutung sein könnte“. Seine KritikerInnen bemängelten einerseits die Unterrepräsentation von Frauen in dem von ihm vorgeschlagenen Kanon, und konstatierten darüber hinaus, dass, wie auch in diesem Fall geschehen, bei der Erstellung von Kanons die Deutungshoheit vor allem Männern zukomme.

Eine Auswertung der vergangenen Zeit-Kanons zeigt, dass die Männerdominanz in Kerstans Kanon so auch schon in vorherigen Listen des Blatts zu finden war. Mit Ausnahme des jüngsten „Kanons der Vielstimmigkeit“ (2018) waren von den 1980ern bis heute Autorinnen stark unterrepräsentiert. Obwohl sich der Anteil von Frauen bis 2015 jedoch merklich gesteigert hat, sinkt er bei Kerstans wieder – was seine Aufstellung umso bemerkenswerter macht.

Ähnliches gilt für die Personen, die über die Zusammensetzung der Kanons entschieden: Die Zeit-Kanons stammen fast ausschließlich aus männlicher Feder – früher wie heute. Waren für die Erstellung der „Bibliothek der 100 Bücher“ (1978-80) nur Männer zuständig, so findet sich unter den 9 JurorInnen der „Bibliothek der 100 Sachbücher“ (1984) mit Uta Ranke-Heinemann nur eine Frau. Für den Kanon der Vielstimmigkeit, in dem zwar LeserInnen Ideen einreichen konnte, letztendlich aber die Zeit-Redaktion eine Auswahl traf, wurden Vorschläge von Usern beider Geschlechter scheinbar gleichgewichtiger berücksichtigt.[1] Die Zusammensetzung der Jurys hinter den anderen Kanons der Zeit war online nicht aufgeschlüsselt zu finden.[2]

Mit ihrem Überschuss an männlichen Juroren und Autoren stellen die Zeit-Kanons jedoch keine Ausnahme dar. Vielmehr reihen sie sich in eine lange Tradition ein. So krankten beispielsweise auch Marcel Reich-Ranickis Kanon, der von 2002 – 2006 in fünf Teilen erschien, oder, wenn auch in geringerem Maße, der Spiegel-Kanon der „50 wichtigsten Romane unserer Zeit“ an diesem Problem.

Der systematische Ausschluss von Frauen ist symptomatisch

Das Phänomen der Unterrepräsentanz von Frauen in Kanons und Archiven ist auch aus anderen Bereichen bekannt. Eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen der Universität Oxford hat beispielsweise eine Analyse des Oxford Dictionary of National Biography  – einer Sammlung von Biographien wichtiger Figuren der britischer Geschichte – und  des Oxford English Dictionary durchgeführt. Dabei untersuchten die Forscherinnen, wie Frauen in diesen Lexika dargestellt wurden. Wie auch Kanons, erfüllen Lexika eine Orientierungsfunktion – wer und was darin vertreten ist (und vor allem wer und was nicht), lässt sich nicht nur auf deren Quellen und Autoren zurückführen, sondern beeinflusst auch was und wer der Zukunft erforscht und nicht erforscht wird.

Erstens fanden sich wie auch im Fall der Zeit-Kanons unter den Herausgebern und Mitwirkenden fast ausschließlich Männer. Zweitens wurden die vorgestellten Persönlichkeiten nicht nach einem objektiven Kriterium zur Messung ihrer Relevanz ausgewählt, sondern nach der subjektiven Einschätzung der Herausgeber im Bezug auf den Grad ihrer „Interessantheit“. Die Forscherinnen zeigten, dass die vorliegenden Lexika den Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben nicht einfach nur fehlerhaft widergaben, sondern schlichtweg überzeichneten. Darüber hinaus nahm in den wenigen Artikeln über Frauen die Darstellung des Privatlebens eine größere Rolle ein als deren öffentliches Leben und eine von Geschlechterstereotypen und überholten Moralvorstellungen geprägte Sprache dominierte die Lexika.

Gegenkanon und Ungelesenes anstatt der bekannten rettenden Insel

Welche Ansätze zum Umgang mit der Dominanz von Männern in Kanons werden diskutiert? Einerseits stehen weibliche Kanons im Raum – vergangene Woche veröffentlichte Schriftstellerin Sibylle Berg gemeinsam mit einem Autorinnenkollektiv einen weiblichen Gegenkanon.

Eine weitere Alternative ist es, die grundsätzliche Idee eines Kanons zu hinterfragen. Entgegen der Fokussierung auf wenige Werke versuchen zahlreiche Projekte bisher unbeachtete Beiträge hervorzuheben, so beispielsweise Project Vox. Dessen Ziel ist vergessenen Philosophinnen und deren Beiträge die Geltung zu verschaffen, die ihnen bisher verwehrt blieb. Dabei deuten die Initiatoren auf die Unzulänglichkeit jedes Kanons. Anstatt Kerstans Aussage, „dass die stilprägenden, typischen, populären Werke der Vergangenheit vorwiegend von Männern stammen“, zu widersprechen, weist dieses Projekt darauf hin, dass die Werke von Frauen in der Vergangenheit systematisch unbeachtet blieben.

Für Kerstan ist seine Bestenliste die rettende Insel, auf die er sich in einer globalisierten Moderne, im Zeitalter des Internets und der Flut an Informationen zurückzieht. Statt der Suche nach einer Insel wollen solche Projekte bisher Unbekanntes und Ungelesenes identifizieren.


[1] Für den Kanon der Vielstimmigkeit sind lediglich Nutzernamen vermerkt. 29 davon nutzen männliche Vornamen, 22 nutzen weibliche und 54 sind nicht zuordenbar.

[2] Auf Anfrage lies uns die Redaktion der ZEIT, nach Veröffentlichung dieses Artikels, die Namen der Jury der ZEIT-Schülerbibliothek zukommen: Sie hatte vier weibliche und vier männliche Mitglieder und damit ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. Für den “Kanon der Nachkriegsliteratur” und den “Kanon des jungen Jahrhunderts” gab es keine eigene Jury, hier wählte die ZEIT-Literaturredaktion aus.

Text: Kristina Kämpfer

Daten und Grafiken: Einfacher Dienst

Foto: Ryohei Noda via Flickr, CC-BY 2.0