18 Sekunden Bildung gegen 1 Stunde Flucht und Asyl: Während Bildung, Pflege und Altersarmut die Hauptthemen der Wähler sind, diskutieren die „Sommerinterviews“ in ARD und ZDF vor allem das Thema Migration. Eine Analyse.

Angela Merkel wirkt müde, als sie im ZDF-Sommerinterview zu einer Antwort auf eine Frage von Bettina Schausten ausholt. Es ist der erste Juli 2018 und wieder spricht sie über ihren „Schicksalsmoment“, den Sommer 2015. Die Tage des „Wir schaffen das“. Wieder verneint sie die angebliche Gesetzlosigkeit, das „Zuviel“ der Flüchtlinge, verweist auf die geschlossenen Grenzen in Ungarn. So ein Rückblick im Sommerinterview ist ungewöhnlich. Das Format ist mit 20-Minütigen Interviews traditionell darauf ausgerichtet, im nachrichtenärmsten Teil des Jahres umfassend Bilanz zu ziehen. Auch dieses Jahr wollten ARD und ZDF den „Parteien wieder den Puls fühlen“: Wo steht die Nation, welche Ungerechtigkeiten sollten schleunigst angegangen werden und was ist eigentlich aus den Wahlversprechen geworden ­– früher mit Helmut Kohl (CDU) am Ufer des Wolfgangsees oder mit Gerhard Schröder (SPD) in der Toskana

Im Sommerinterview mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) passiert das alles nicht. Insgesamt dreht sich das Gespräch mehr als 15 Minuten um Flucht, Asyl und Migration, knapp fünf Minuten geht es um den Unionsstreit und sie selbst. Andere Themen kommen nicht vor. Nun mag man diese Konzentration des Gesprächs mit der Bundeskanzlerin dem Zeitpunkt seiner Aufnahme zuschreiben: Die Unionsparteien stehen kurz vor dem Bruch und Horst Seehofer kurz vor dem Rücktritt. Doch wie stark die Einengung der Themen in den Sommerinterviews eigentlich ist, zeigt die umfassende Auswertung der Gespräche.

Das Interview Merkel ist kein Einzelfall. ARD und ZDF begeben sich in diesem Jahr gemeinsam mit den Spitzenpolitikern im Sommersonnenschein auf ein großes  Flüchtlingskrisenrätseln: War das im Sommer 2015 ein Rechtsbruch? Wäre die AfD auch ohne das Thema erfolgreich? Geht es nicht direkt um Geflüchtete oder die AfD, dann stehen die mit der Thematik verschränkten Krisen der Bundesregierung im Vordergrund, wie etwa „Bamf-Skandal“ oder der Unionsstreit. Dazu kommen noch Diskussionen über die richtige Aufstellung der eigenen Partei – insbesondere die Frage, wie Wähler von der AfD zurückgewonnen werden können – sowie über die eigene politische Rolle. Insgesamt bestimmen diese drei Themenblöcke – Migration, Populismus und die eigene Partei – mehr als zwei Drittel der gesamten Gesprächszeit aller Interviews.

Bürger haben andere Prioritäten als die Redaktionen von ARD und ZDF

Notgedrungen rücken fast sämtliche andere Themen so in die journalistische „No-Go“ Area. Dabei ist die Asylfrage längst nicht mehr die wichtigste für die breite Bevölkerung. Kurz vor den Sommerinterviews erschien eine Emnid-Umfrage im Auftrag der Axel-Springer Medien, der zufolge inzwischen der Kampf gegen Altersarmut und Bildungsgleichheit die wichtigsten Themen für die deutschen Bürger sind – Zuwanderung landete abgeschlagen auf Platz 13.  Diese Tatsache sollte eigentlich auch in den Redaktionen der Öffentlich-Rechtlichen bekannt sein: Eine Umfrage des hauseigenen ARD-DeutschlandTrends ergab kürzlich, dass Gesundheitspolitik und die Pflege das Top-Thema für die Deutschen seien. Insgesamt widmeten die Sommerinterviews der Thematik bisher 26 Sekunden. Das ist kein Durchschnitt der Gespräche: Es ist die traurige Summe aller 9 Interviews, 165 Minuten,  9900 Sekunden. Sie stehen 3666 Sekunden Asylpolitik gegenüber.

Diese Diskrepanz zwischen Medien- und Wählerthemen ist kein Novum, die Öffentlich-Rechtlichen standen hier schon einmal in der Kritik: Am 4. September des vergangenen Jahres, als es in die „heiße Phase“ eines lahmen Wahlkampfes ging und mit Angela Merkel und Martin Schulz (SPD) zwei müde Kandidaten in ein Kanzlerduell schleiften. Schon damals monierte Deutschlands führender Medienkritiker Stefan Niggemeier: „Gewinner dieses TV-Duells sind nicht Merkel oder Schulz, Gewinner ist die AfD. Schuld daran sind die Journalisten. (…)Verlierer ist die öffentliche Debatte, die aus Angst vor der AfD deren Thesen, Positionen und Perspektiven übernimmt.“ Während Matthias Dells Kommentar in der „Zeit“ damals den Titel „Wie man den politischen Diskurs abwürgt“ trug, schrieb Hans Hütt in der „Süddeutschen Zeitung“ unter der Überschrift „Wie man eine politische Talkshow gezielt an die Wand fährt“. Deutschlands renommierteste Moderatoren schienen in der Krise: Sie hatten scheinbar keine Strategie im Umgang mit dem Populismus der AfD entwickeln können und schienen im Gegenteil deren emotionales Argument zu stärken: Die Asylfrage sei die dringlichste der Republik.

In den Sommerinterviews 2018 haben sich die Redaktionen von ARD und ZDF trotzdem erneut entschieden, Flüchtlinge, Asyl und Migration auf den ersten Platz zu setzen – und andere Felder wie Bildung und Altersarmut praktisch gar nicht zu thematisieren. Klar: Prioritäten festlegen zu müssen bleibt bei nur 20 Minuten Interviewzeit nicht aus.  Aber bisher ging es den Moderatoren fast ausschließlich um die „Nachwehen der Flüchtlingskrise“ und den Zustand der deutschen Parteien.

Und auch wenn Themen wie „Europa“ (11 Minuten, 47 Sekunden) oder „Arbeit und Soziales“ ( 7 Minuten, 44 Sekunden) geschnitten werden, bleibt die Perspektive der Frage oft der Umgang mit AfD und Populismus. Als sich beispielsweise das Interview mit Christian Lindner (FDP) endlich von der Asyldebatte löst und in die Arbeitspolitik dringt, lautet die erste Frage von ZDF-Moderator Thomas Walde: „Dürfen Sie sich wundern, wenn Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Sicherheit mehr erfahren, sich dem Populismus zuwenden?”. Es ist eine kritische und spannende Frage, aber  anstatt Lösungen für den Arbeitsmarkt zu fordern wirft sie die Debatte auf den Punkt des Umgangs mit der AfD zurück.

Nur Meuthen (AfD) kann über Rentenpolitik sprechen

Die thematische Verengung, gepaart mit dem Fokus auf die mögliche Wahrnehmung politischer Positionen bei AfD-Wählern anstelle der politischen Positionen selber, spielt der AfD gleich in doppelter Hinsicht in die Karten: Einerseits wird die Partei und ihr Kernthema zum Dauerbrenner der Gespräche. Andererseits kommen Politiker anderer Parteien selten zu den Themen, die die Menschen am meisten bewegen. Das lässt sie einerseits abgehoben wirken, andererseits fällt so völlig unter den Tisch, welche inhaltliche Arbeit die Parteien in diesen Feldern machen – auch wenn sie gerade indieser der AfD zum Teil voraus sind.

Besonders deutlich wird dieser Effekt am Beispiel der Rentenpolitik. Bis auf wenige Halbsätze kommt die Thematik in keinem Sommerinterview vor, mit einer Ausnahme: Dem Gespräch zwischen ARD-Hauptstadtstudio-Leiterin Tina Hassel und AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen.  Zwar leitet Hassel den Themenblock mit einer Frage zur fehlenden Vision für die Zukunft des Rentensystems bei der AfD ein. Trotzdem erhält Meuthen die Chance mehr als zwei Minuten zu diesem Thema zu sprechen – mehr als jeder andere Politiker in den bisherigen Sommerinterviews.

Am Anfang war das Wort  – besser: der Ausspruch. „Wir schaffen das“. Hier hat die politischen Entstehungsgeschichte der „Wutrepublik“ ihren Ursprung. Knapp drei Jahre später scheint die Debatte in den Medien immer noch um diesen Ausgangspunkt zu kreisen. Die bisherigen Sommerinterviews in ARD und ZDF verstärken diese thematische Verengung, anstatt sie herauszufordern und spielen damit der AfD in die Karten. Die Bürger aber sind längst drei Schritte voraus.


Zu den Daten:

Eine allgemeingültige Zuteilung ist bei qualitativen Daten wie diesen nicht vollständig möglich. Selbstverständlich können politische Debatten mehrere Schwerpunkte haben. Dennoch wurde versucht, den Tenor der jeweiligen Stellen in ein Thema zusammenzufassen.

Ausschlaggebend für die Zuteilung waren (1) die Herleitung und (2) der Grundtenor der Fragen und Antworten. Grundlage: 14 Kategorien aus Außen-, Innen- und Parteienpolitik (Rot-, Blau- und Gelbtöne). Die Einteilung dieser Daten wurde von zwei Personen vorgenommen.

Die genaue Kodierung der Daten stellen wir in diesem Excel Dokument zur Verfügung:

180812 Sommterinterviews Kodierung

Foto: Angela Merkel im Sommerinterview 2018. Copyright ZDF/Jule Rohr